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Gewalt und aggressives Verhalten in der Pflege: Ursachen, Formen und Prävention

Gewalt und aggressives Verhalten in der Pflege: Ursachen, Formen und Prävention

Die Beziehung zwischen Pflegebedürftigen und Pflegenden ist nicht immer einfach. Stress und Überforderung können auf beiden Seiten zu aggressiven Verhaltensmustern führen. Gewalt gegenüber Pflegebedürftigen oder gegenüber Pflegenden ist immer noch ein Tabuthema, das kaum angesprochen wird. Trotzdem ist es ein bedeutendes Thema, denn bei Befragungen wird von beiden Seiten eine hohe Prävalenz angegeben. Es sollte also nicht weggesehen, sondern hingesehen werden. Gezielte Gewaltprävention ist wichtig, um die Fallzahlen zu senken und Pflegenden und Pflegebedürftigen ein angenehmes Arbeits- und Lebensumfeld zu gewährleisten.

 

Ursachen aggressiver Verhaltensmuster in der Pflege

Eine Ansicht hält sich hartnäckig: Pflegekräfte müssen immer alles aushalten und dabei immer ruhig bleiben, sonst wären sie falsch in ihrem Job. Aggressionen sind allerdings für jeden Menschen normal. Es ist nur wichtig, zu lernen, wie man damit umgeht und das ist auch im Job ein Lernprozess. Welche grundlegenden Probleme führen zu aggressiven Verhaltensmustern in der Pflege?

 

  1. Das persönliche Aggressionspotential ist vom Charakter, den eigenen Erfahrungen und der erlebten Kultur und Ideologie in einer Gesellschaft abhängig.
  2. Überall, wo Menschen zusammen wohnen und arbeiten, kann es zu Konflikten aufgrund von unterschiedlichen Ansichten und Charakteren kommen.
  3. Es besteht ein gewisses Machtgefälle zwischen Pflegendem und Gepflegtem, da der Pflegebedürftige auf die Pflege angewiesen ist. Diese Macht darf natürlich nicht missbraucht werden. Auf Seite der Pflegebedürftigen kann das Gefühl der Hilflosigkeit und Nutzlosigkeit Aggressionen fördern. Für pflegebedürftige Personen kann es schwierig sein, die Hilfe, die eine Pflegekraft anbietet, auch zuzulassen.
  4. Langeweile und fehlende soziale Kontakte können Aggressionen bei manchen Menschen fördern.
  5. Überforderung und Zeitmangel sind ein Problem im Pflegebereich. Schließlich sind viele Stationen unterbesetzt. Wenn sich dann auch noch die Patient(inn)en querstellen oder beleidigend werden, dann kann das selbst bei entspannten Charakteren Wut auslösen. Häufig schaukeln sich Situationen hoch, weil Pflegekräfte ihre Arbeit schnell erledigen müssen und Patient(inn)en nach Aufmerksamkeit schreien.
  6. Besonders schwierig ist die Situation bei mentalen Beeinträchtigungen wie Demenz. Hier kommt es häufig zu Aggressionen, weil die pflegebedürftige Person Situationen nicht mehr richtig einschätzen kann und überfordert ist. Auch manche Medikamente können als Nebenwirkung Aggressionen fördern.

 

Arten der Gewalt

Nicht nur körperliche Gewalt, auch psychische Gewalt, sexuelle Übergriffe und Vernachlässigung sind Formen der Gewalt, die täglich im Pflegekontext erlebt werden.

 

Physische Gewalt

Diese Form der Gewalt ist wohl am einfachsten zu identifizieren. Sie kann zum Beispiel in Form von Schlägen oder Stößen passieren. Vor allem im Bereich der Pflege dementer Personen wird vermehrt von körperlicher Gewalt gegen das Pflegepersonal berichtet.

Seitens der pflegenden Person kann aber auch der Freiheitsentzug z.B. durch Medikamente oder Fixierungen als körperliche Gewalt angesehen werden, ebenso wie eine absichtlich unbequeme Lagerung der Patient(inn)en oder das Waschen mit absichtlich falsch temperiertem Wasser. Nicht immer findet körperliche Gewalt aber mit Absicht statt. Bei bestimmten Erkrankungen können Betroffene ihre Gefühle und ihren Körper nicht mehr ausreichend kontrollieren. Unter Stress können Pflegende Pflegebedürftige vielleicht nicht mit der nötigen Vorsicht, sondern etwas grob anfassen, um schneller fertig zu werden und zur nächsten Aufgabe zu kommen.

Psychische Gewalt

Psychische Gewalt in Form von Drohungen oder Beschimpfungen kommt im Pflegebereich sehr häufig vor. Es kann auch zu einer Gewaltspirale kommen, wenn der Pfleger z.B. von einer dementen Person ständig beschimpft wird. Auch Pfleger sind nur Menschen und es ist schwer, immer freundlich zu bleiben, wenn die Gegenseite ständig Aggressionen zeigt, selbst wenn sie krankheitsbedingt sind.

Sexuelle Übergriffe und Belästigung

Auch sexuelle Gewalt kommt im Pflegebereich vor. Dabei denkt man an den Klaps auf den Po einer Pflegerin, aber auch an schwierige Situationen, z.B. beim Waschen der Patient(inn)en. Auch gezielter Exhibitionismus pflegebedürftiger Personen kann sehr unangenehm für das Pflegepersonal sein. In Pflegeheimen kann es aber auch unter Bewohnern zu Situation kommen, in denen die Situation mobilitätseingeschränkter oder mental erkrankter Personen ausgenutzt wird.

Vernachlässigung

Durch die angespannte Situation im Pflegebereich kann es allein durch den Fachkräftemangel und den Stress des Personals zu verminderten Pflegemaßnahmen kommen, da einfach nicht genügend Personal für die Pflege der Patient(inn)en vorhanden ist. Passiert allerdings eine deutliche und absichtliche Vernachlässigung, dann ist diese als Gewalt gegenüber der pflegebedürftigen Person zu werten.

 

Prävalenz von Gewalt in Pflegesituationen

Es ist schwierig, die Prävalenz von Gewalt in der Pflege in Zahlen zu fassen, wenngleich verschiedene Studien existieren. Die Ergebnisse sind sehr unterschiedlich.

Wie viele Pflegekräfte und Pflegebedürftige haben bereits Gewalt im pflegerischen Bereich erlebt? Ein kleiner Überblick über die Bandbreite der Prävalenz von Gewalt in verschiedenen Studien zeigt, dass dies schwer zu erfassen ist:

Psychische Gewalt gegenüber Pflegebedürftigen: 21%-69 %
Physische Gewalt gegenüber Pflegebedürftigen: 9%-38%
Sexuelle Übergriffe gegenüber Pflegebedürftigen: 1%-10%
Vernachlässigung der Pflegebedürftigen: 19%-54%

Psychische Gewalt gegenüber dem Pflegepersonal: 69%-80%
Physische Gewalt gegenüber dem Pflegepersonal: 11-60%
Sexuelle Übergriffe gegenüber dem Pflegepersonal: 14%-52%

 

Warum kommt es zu derart weit abweichenden Zahlen?

Wie Gewalt empfunden wird, ist sehr individuell. Nicht jeder empfindet in den gleichen Situationen einen gewaltsamen Übergriff. Soziale, persönliche und auch religiöse Faktoren können beeinflussen, wann wir übergriffiges Verhalten identifizieren und wann nicht. Für pflegebedürftige Personen, die sich mit ihrer Situation nicht abgefunden haben, kann sich jede Hilfestellung, jede Berührung wie ein Übergriff anfühlen, da sie nicht bereit sind, Hilfe anzunehmen und sich damit unwohl fühlen. Diese Situation ist für beide Seiten schwierig. Auch die mentale Beeinträchtigung von Patient(inn)en, welche ihre Erlebnisse oft nicht mehr richtig verstehen oder schildern können und die Scham seitens des Pflegepersonals, machen die Erfassung schwierig. Die Dunkelziffer wird deswegen hoch eingestuft.

Manche Tendenzen lassen sich allerdings in den Studien ablesen. Die Prävalenz von Gewalt dürfte in der Langzeitpflege am höchsten sein. Gewalt in Richtung des Personals trifft deutlich häufiger das Pflegepersonal als Ärzte/Ärztinnen und Therapeut(inn)en. Die meisten Gewaltfälle gibt es in psychiatrischen Anstalten. Verbale Aggressionen sind die häufigste Form der Gewalt.

 

Prävention von Gewalt im Pflegebereich

Wut, Enttäuschung und Stress sind menschlich. Bei Erkrankungen wie Demenz kann die Kontrolle der Emotionen besonders schwierig sein. Es ist wichtig, mit diesen Gefühlen richtig umzugehen.

 

Schwierige Situationen für Pflegende

Eine pflegebedürftige Person, die freundlich ist und sich für die Pflegemaßnahmen bedankt, so wäre es ideal. Leider ist es aber auch immer wieder deutlich schwieriger. Was tut man, wenn eine pflegebedürftige Person z.B. das Essen oder die Hygienemaßnahmen verweigert? Wenn es mit den Pflegemaßnahmen bei einer Person einfach nicht funktionieren will, dann sollte man das nicht persönlich nehmen und eine andere erfahrene Pflegekraft um Hilfe bitten. Zwangspflegemaßnahmen zum Schutz des Lebens und der Gesundheit einer pflegebedürftigen Person sind nur nach richterlicher Anordnung zulässig.

Sollte es zu Übergriffen seitens einer pflegebedürftigen Person kommen, dann sollte dies auch angesprochen werden. Manchmal kann ein Wechsel der Pflegekraft bei schwierigen Patient(inn)en sinnvoll sein, um die Situation zu entschärfen. Eine Aussprache unter Kolleg(inn)en kann in vielen Fällen helfen, neue Wege zu finden. Auch das Gespräch mit den Patient(inn)en kann Auslöser der Aggressionen aufdecken. In manchen Fällen sollte allerdings tatsächlich die Polizei verständigt werden, z.B. wenn es zu Körperverletzungen kommt.

 

Tipps für eigene Aggressionen

  • Nehmen Sie Ihre Gefühle bewusst wahr. Wut ist ein berechtigtes Gefühl. Es darf Sie aber nicht kontrollieren.
  • Gehen Sie aus der Situation und atmen Sie mehrmals tief in den Bauch ein und aus, bis Sie sich etwas beruhigt haben. Diese Zeit dürfen Sie sich nehmen, wenn Sie sie brauchen.
  • Versuchen Sie, Ihre Wut auf anderem Wege wieder loszuwerden. Treiben Sie z.B. nach der Arbeit Sport.

 

Tipps bei Aggressionen von Pflegebedürftigen

  • Versuchen Sie, die Quelle der Wut herauszufinden. Sprechen Sie mit der Person darüber und versuchen Sie, den Auslöser, wenn möglich, zu vermeiden und das Problem zu lösen.
  • Bleiben Sie selbst ruhig, wenn Sie mit der Person sprechen.
  • Entfernen Sie Gegenstände, mit denen die Person Sie oder sich selbst verletzen könnte.
  • Holen Sie sich bei Bedarf Hilfe.

 

Quellen:

Lux, Katharina u.a.: Gewaltprävention in der Pflege. Häufigkeit von Gewalt in der Pflege, URL: https://www.zqp.de/thema/haeufigkeit-gewalt-pflege/#pflegende

Engler, Marina: Gewalt in der häuslichen Pflege: Definition, Beispiele und Tipps zur Prävention, URL: https://sanubi.de/haeusliche-pflege/gewalt-in-der-pflege

AK Steiermark: Beschäftigte in der Pflege vor Gewalt schützen, URL: https://stmk.arbeiterkammer.at/service/broschuerenundratgeber/gesundheitundpflege/20170602_Beschaeftigte_Pflege_Gewalt_Brosch-barrf.pdf

Jocham, Hubert u.a. (Forschungsgruppe Empirische Sozialwissenschaften FH Vorarlberg): Gewalt in der Pflege – Ergebnisbericht, 2021, URL: https://opus.fhv.at/frontdoor/deliver/index/docId/4736/file/Gewalt_in_der_Pflege.pdf