Bereits im Sommer sprach unser Geschäftsführer Gerhard Flenreiss mit RELATUS MED über den Pflegenotstand in Österreich. Lesen Sie im Interview, warum es um den Gesundheitssektor schlimmer steht als viele annehmen und welche Veränderungen er für eine bessere Zukunft der Pflege vorschlägt.
„Es ist noch viel dramatischer“ – Interview mit Gerhard Flenreiss
Die Personalsituation im Gesundheitswesen ist angespannter als öffentlich bekannt, sagt Gerhard Flenreiss im RELATUS Sommerinterview. Er ist Chef des Personalunternehmens MediCare und Berater vieler Einrichtungen.
Ihr Unternehmen arbeitet seit vielen Jahren im Bereich im Personalleasing und Personalberatung im Gesundheitsbereich. Wie sehen Sie die aktuelle Lage im System?
Sie ist noch viel dramatischer, als es öffentlich diskutiert wird. Wir haben in jeder Einrichtung eine permanente Unterbesetzung. Vor 20 Jahren haben wir kurzfristig unterstützt, wenn es personelle Engpässe gab. Jetzt könnten wir permanent Leute überall hinschicken. In der Öffentlichkeit bekommt das, was sich dort wirklich abspielt, niemand mit. Wir hören von geschlossenen Stationen und ähnlichem, das sind aber nur technische Begriffe, für das was man vor Ort erlebt. Stationsschließungen sind eigentlich ein humaner Weg, um Schlimmeres abzuwenden.
Was ist in diesen vergangenen 20 Jahren schiefgelaufen?
Hätte man damals versucht, ein vernünftiges Management im Bereich Human Ressources zu betreiben – mit Personalentwicklung, Personalbindung und Management in der Pflege – wäre der Leidensdruck heute nicht so groß. Der Nachwuchsmangel ist nur ein Teil des Problems. Es verlassen mehr Menschen den Beruf als notwendig. Wir müssen sehen, dass nicht jeder oder jede, die gehen, das so in der Berufs- und Lebensplanung vorgehabt haben.
Worin sehen Sie die Gründe für die Entwicklung?
Früher war Selbstausbeutung bei Gesundheits- und Pflegeberufen noch weit verbreitet. Das ist nicht mehr so, und diesem Umstand wird nicht entgegengewirkt. Alle jammern über die Arbeitsbedingungen, wir ändern diese aber nicht. Stattdessen reden wir die Jobs dadurch sogar schlecht. Um mich richtig zu verstehen: man darf die Belastungen nicht kleinreden, man muss sie aufzeigen. Wir befinden uns in einer Abwärtsspirale, die durch die Pandemie verstärkt wurde. Dort wurden im HR-Management viele Fehler gemacht. Eine Diplomierte Gesundheits- und Krankenpflegeperson hat etwa freiberuflich in Impfstraßen 60 Euro pro Stunde erhalten und jetzt soll sie für 16 Euro zurück auf die Station. Das erzeugt allein Frustration.
Welche Auswege aus der Misere schlagen Sie vor?
Wir müssen über die Rahmenbedingungen reden, aber nichts schönreden. Wir müssen klar ansprechen, dass bestimmte Dinge nicht änderbar sind. Ich kann kein Homeoffice machen in der Pflege. Ein Krankenhaus ist ein 24 Stunden/7 Tage-Betrieb – da habe ich Wochenend- und Nachtdienste. Das lässt sich nicht wegdiskutieren. Man darf also nicht falsche Erwartungshaltungen erwecken. Die Politik sagt gerne „Rahmenbedingungen verbessern“ – aber was heißt das? Auch wenn ich jemandem 5000 Euro zahle, wenn jemand keine Nachtdienste machen will, sind 5000 Euro egal. Wasser ist nass, ich kann nicht trocken duschen. Das Problem ist, dass jene, die wir ausgebildet haben, nicht lange genug bleiben, um große Verbesserung zu bringen. Die Exitquoten im Gesundheitsbereich in den ersten drei Jahren sind enorm. Nur mehr Ärzt:innen oder Pflegekräfte auszubilden reicht also nicht, man muss die Leute auch begleiten, damit sie im Beruf bleiben und ihn gerne machen.
Wie kann das gehen?
Es gibt keine Patentlösung, es sind viele kleine Stellschrauben. Wir reden seit Jahrzehnten darüber, dass die Erwerbsbiographie nicht mehr linear ist. Nur den Fokus auf junge Menschen zu legen, die ihre Ausbildung beginnen, ist zu wenig. Wir müssen das über die gesamte Lebenszeit sehen: Wer hat Basisbildungen und psychische Fähigkeiten? Es würde auch den Druck lindern, wenn ich jene die verfügbar sind, für Gesundheitsberufe aktivieren und begeistern könnte. Von den 300.000 Jobsuchenden könnte man eventuell 30.000 gewinnen. Damit wäre die Hälfte der Lücke geschlossen. Und es braucht eine Kampagne. Jedes Bundesland hat ein eigenes Programm, es braucht meiner Meinung nach aber eine zentrale Koordinationsstelle – einen Mister oder eine Misses Pflege. Wir haben zu Recht einen Digitalisierungsstaatssekretär. Wir brauchen aber auch einen Pflegestaatssekretär, der Fäden zusammenführt und Entscheidungen trifft, die in ein bundespolitisches Maßnahmenbündel mündet.
Gilt das auch für das Thema Zuwanderung? Bund und Länder wollen derzeit ja Menschen in anderen Regionen der Welt, wie Südamerika oder Asien als Pflegekräfte nach Österreich holen.
So wie das jetzt diskutiert wird, funktioniert das nicht. Als Staat stehen wir hier im Wettbewerb mit anderen Ländern, die schneller und weiter sind, wie wir. Wir müssen aufholen, es gibt aber keinen Plan dafür. Dafür müssen wir konkrete Ziele formulieren und konkretisieren, wen wir wofür haben wollen. Und es braucht ein Bekenntnis zu bundeseinheitlichen Regelungen und keine Verländerung. Wir müssen den Leuten verbindlich etwas anbieten können. Und wir müssen im Herkunftsland ein Vertrauen in die Auswanderung zu uns schaffen. Wir müssen Österreich „verkaufen“ und eine Geschichte erzählen. Dabei geht es nicht darum, dass wir den Menschen alles finanzieren, sie kommen ja her, weil sie hier arbeiten wollen. Aber zu sagen: „Kommt halt und dann schauen wir mal“, funktioniert nicht. Wir müssen beim Start helfen und es muss klar sein, wie diese Hilfe aussieht.
Was fordern Sie?
Zuerst braucht die Politik ein Commitment, dass wir eine gezielte Zuwanderung wollen. Es muss uns allen klar sein, dass das eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe ist, weil wir vor allem in der Pflege die Zuwanderung benötigen. Die Menschen, die herkommen, müssen in Gemeinden integriert und abgeholt werden. Es muss uns allen klar sein, dass jemand, der aus dem Ausland zu uns kommt, die Großmutter von jemandem hier pflegt. Und es muss uns klar sein, dass das mit Ausländerfeindlichkeit nicht zu machen ist. Es braucht deshalb auch eine öffentliche Debatte, damit wir Fremdenfeindlichkeit abbauen und nicht schüren.
Sie haben auch von verbindlichen Angeboten gesprochen – wie sollen diese aussehen?
Das gilt etwa für die Nostrifizierung, wo wir weg von der Einzelfallbetrachtung hin zu bundeseinheitlichen Regelungen kommen müssen. Und es dürfen für die Nostrifizierung und Ergänzungslehrgänge keine Kosten anfallen. Gleichzeitig braucht es flüssige und klare Verwaltungsabläufe, an denen sich alle orientieren können. Wir müssen zudem in der Einstiegsphase die Deutschausbildung vor Ort unterstützen und brauchen in den Regionen eigene Integrationsbeauftrage. Zudem wünsche ich mir einen Resettlement-Support etwa mit Wohnmöglichkeiten am Beginn, einer Schule für Kinder und einen Support für den Familienzuzug – insbesondere wenn es ein Mangelberuf ist. Wir dürfen nicht die Fehler machen, die es in den 1970er Jahren gab, als man etwa Arbeitskräfte aus der Türkei geholt hat ohne Integrationskonzept und Ziel. Weil geplant war, dass sie nach ihrem Arbeitsleben wieder zurückkehren sollen. Damit kann man im internationalen Wettbewerb mit anderen Staaten heute nicht mehr punkten.
Wir haben jetzt über öffentliche Aufgaben gesprochen. Welche Rolle sollen oder können dabei Personalleasing-Unternehmen wie Ihres übernehmen? Rekrutieren Sie dann die Pflegekräfte in anderen Ländern?
Die Politik allein wird das nicht schaffen. Sie muss die Rahmenbedingungen und die Budgetierung schaffen. Für die Umsetzung benötigt es eine Partnerschaft von öffentlicher Hand und privaten Unternehmen, die es gewohnt sind, Mitarbeiter:innen – auch international – zu rekrutieren. Das tun wir ja heute schon, wenn wir etwa für andere Unternehmen oder internationale Konzerne arbeiten. Die Vorfinanzierung im Bereich der Pflege ist für uns aber unmöglich. Wir brauchen also öffentliche Ressourcen und privatwirtschaftliche Expertise.